Der Schuldneratlas zeigt auf, wie viele und welche Verbraucher in Deutschland Zahlungsschwierigkeiten haben. Er legt besorgniserregende Tendenzen offen. Ein Faktor verschärft die Problematik zunehmend.

Die Zahl der überschuldeten Privatpersonen in Deutschland ist erneut angestiegen. 6,93 Millionen Bundesbürger konnten zum Stichtag 1. Oktober ihre Rechnungen nicht mehr bezahlen, meldet die Auskunftei Creditreform. Das sind 0,3 Prozent oder umgerechnet 19.000 Fälle mehr als noch im Vorjahr.
Damit ist mittlerweile jeder zehnte Erwachsene hierzulande überschuldet und weist nachhaltige Zahlungsstörungen auf, wie es im Amtsdeutsch heißt. Das Plus geht dabei ausnahmslos auf das Konto älterer Verbraucher zurück. „Das Thema Altersüberschuldung hat deutlich an Bedeutung gewonnen“, kommentiert Michael Bretz, Leiter der Wirtschaftsforschung bei Creditreform.
Während die Zahl jüngerer Personen mit massiven Finanzproblemen in den letzten zwölf Monaten deutlich gesunken ist, gibt es in den Altersgruppen ab 50 Jahren überdurchschnittlich starke Zuwächse: um 2,2 Prozent oder 25.000 Betroffene bei den 50- bis 59-Jährigen, um 6,5 Prozent oder 33.000 Fälle bei den 60- bis 69-Jährigen und sogar um 35,6 Prozent beziehungsweise 69.000 Personen bei den Verbrauchern über 70.
Im Mehrjahresvergleich zeigt sich diese Entwicklung zudem noch mal deutlicher, allen voran bei den Ältesten in der Gesellschaft. So ist die Zahl der Fälle in der Altersgruppe Ü70 binnen fünf Jahren um stattliche 138 Prozent gestiegen, wenn auch ausgehend von einem vergleichsweise niedrigen Niveau. „Wir sehen einen Trend zu Altersarmut und Altersüberschuldung“, heißt es dazu bei Creditreform.
Viele arbeiten noch im Rentenalter
Ursachen gibt es dabei den Experten zufolge gleich mehrere, angefangen beim Anwachsen des Niedriglohnsektors bis hin zu Änderungen in den Erwerbsbiografien. Als Hauptgrund aber hat Creditreform die Rentenreformen der vergangenen 20 Jahre ausgemacht. Die nämlich hätten fast durchweg auf eine Reduktion des Sicherungsniveaus der gesetzlichen Rente gezielt, um den Beitragssatz zu stabilisieren. „Nun reicht das Leistungsniveau der Rentenversicherung vielen Verbrauchern offensichtlich nicht mehr aus.“ Um den gewohnten Lebensstandard halten zu können, seien zusätzliche Einnahmen nötig. Also gehen viele Verbraucher auch im Rentenalter noch arbeiten.
Bestätigt wird diese Analyse vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB), das in seiner aktuellen Studie „Erwerbstätigkeit nach dem Übergang in Altersrente“ anführt, dass 70 Prozent der befragten Frauen und 53 Prozent der Männer angeben, auf einen Hinzuverdienst im Alter angewiesen zu sein. Und Besserung ist nicht in Sicht. „Das Problem der Altersüberschuldung wird in Zukunft eher zu- als abnehmen“, prognostiziert Experte Bretz.
Zum einen seien die finanziellen Reserven vieler Verbraucher begrenzt. Das zeigt auch der sogenannte WSI-Report der Hans-Böckler-Stiftung, dem zufolge ein Drittel aller Haushalte in Deutschland maximal wenige Wochen oder Monate das aktuelle Konsumniveau sichern kann. „Zum anderen wird die Sicherung des Lebensstandards angesichts deutlich steigender Wohn- und Mietkosten erkennbar schwieriger“, warnt Bretz.
Creditreform hat daher im aktuellen Schuldneratlas die Bedeutung von Mieten und Immobilienpreisen für die Überschuldungsentwicklung gesondert untersucht. Das Ergebnis: Wohnen ist zumindest in Großstädten zum Armutsrisiko, in jedem Fall aber zum Überschuldungsrisiko geworden. „Die Mietbelastungsquote liegt bei vielen Mietern bei über 50 Prozent“, heißt es dazu im Bericht. Die Betroffenen geben also mehr als die Hälfte ihres Haushaltseinkommens fürs Wohnen aus.
Kritisch werde es aber schon oberhalb von 30 Prozent. „Es bleibt dann nur relativ wenig Geld für die sonstige Lebensführung.“ Nach Daten der Hans-Böckler-Stiftung, dem Forschungs- und Studienförderungswerk des Deutschen Gewerkschaftsbundes, leben dadurch 1,3 Millionen Haushalte in deutschen Großstädten nach Abzug der Miete von weniger als den Hartz-IV-Regelsätzen.
Vorsicht vor steigenden Zinsen
Wohnkosten sind damit ein wesentlich größeres Problem, als die amtliche Statistik aussagt. So liegen Mietschulden gerade mal auf Platz neun im Ranking der häufigsten Schuldenarten, die das Statistische Bundesamt jedes Jahr auflistet. Der Grund liegt allerdings auf der Hand, weiß Creditreform-Experte Bretz: „Die Nichtzahlung von Mietkosten hat für den Mieter meist harte Folgen. Daher werden sie selbst bei knapper werdenden finanziellen Ressourcen meist vorrangig beglichen.“
Bei Hauseigentümern sieht Creditreform zudem das Problem steigender Zinsen. Zumal die Immobilienpreise in den vergangenen Jahren deutlich stärker gestiegen sind als Löhne und Einkommen. „Die Gefahr ist hoch, dass sich die Käufer wegen der niedrigen Zinsen höher verschulden, als sie das zu Zeiten mit höheren Zinsen getan hätten. Eine Zinswende auf ein höheres Niveau hätte dann fatale Folgen.“
Wenn auch zeitverzögert, weil die meisten Hauskredite wegen der niedrigen Zinsen lange Laufzeiten haben. „Verschlechtert sich zudem die konjunkturelle Lage, was angesichts der globalen Rahmenbedingungen zu erwarten ist, wird die Zahl der Überschuldungsfälle in näherer Zukunft merklich ansteigen“, heißt es im Schuldneratlas.
Damit würde sich der Trend der vergangenen Jahre weiter fortsetzen. Seit 2009 ist die Zahl der überschuldeten Privatpersonen in Deutschland lediglich einmal zurückgegangen – und das auch nur sehr moderat. Unter dem Strich hat die Zahl der Fälle binnen zehn Jahren um rund 750.000 zugenommen. Verantwortlich für das Abrutschen von Privatpersonen in akute Finanznöte sind dabei vornehmlich fünf Gründe, die sogenannten Big Five, wie es in der Branche heißt: Arbeitslosigkeit, Erkrankung/Sucht/Unfall, Trennung/Scheidung/Tod, unwirtschaftliche Haushaltsführung und eine gescheiterte Selbstständigkeit. Zusammen stehen sie für rund 70 Prozent der Überschuldungsfälle.

Konsolidierung in den Ostländern
Geografisch hat sich wie schon in den Vorjahren kaum etwas geändert. Die meisten Schuldner sitzen in den Stadtstaaten: Bremen, Berlin und Hamburg kommen jeweils auf Überschuldungsquoten im zweistelligen Prozentbereich. Den niedrigsten Wert im Bundesländer-Ranking gibt es in Bayern. Mit knapp 7,5 Prozent liegt er beinahe halb so hoch wie der von Schlusslicht Bremen. Auf Platz zwei folgt weiterhin Baden-Württemberg mit einer Quote von 8,3 Prozent.
Dazu schaffen mit Thüringen, Sachsen und Brandenburg drei weitere Länder einen Wert unter dem Bundesdurchschnitt von derzeit 10,04 Prozent. Dass es sich dabei um Ostländer handelt, kommt nicht von ungefähr. „Die Spirale dreht sich im Westen schon seit einigen Jahren stärker als im Osten, gerade auch bei Fällen mit hoher Überschuldungsintensität“, sagt Michael Bretz, der damit auch eine ganz grundsätzliche Umkehr im Grundtrend sieht.
Im Langzeitvergleich jedenfalls gibt es der Statistik zufolge die mit Abstand stärksten Steigerungen bei den Überschuldungsfällen in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg, Bayern und Hessen. Die stärksten Rückgänge dagegen weisen Brandenburg, Thüringen, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen-Anhalt auf.
Die Höhe der Ausstände geht dabei weit auseinander. Unterschieden wird grundsätzlich nach harten Überschuldungsfällen – etwa bei einer Privatinsolvenz – und weichen Überschuldungsfällen, bei denen ein Verbraucher mehrere Rechnungen nicht mehr bezahlen kann. Letztere sind 2018 um fast vier Prozent gestiegen, während die Zahl der harten Fälle angesichts der guten Wirtschaftslage sogar rückläufig war. In Summe schieben die Betroffenen derzeit einen Schuldenberg in Höhe von 208 Milliarden Euro vor sich her, das entspricht einer durchschnittlichen Schuldenhöhe von rund 30.000 Euro.
(Quelle: welt.de, Carsten Dierig, 13.11.18)
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