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Schnarchen macht Krankenkassen reicher?!?

Der zehn Jahre alte Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen hat die Deutschen auf dem Papier kränker gemacht. Spahns Reformpläne könnten das Problem verschärfen.


Gesundheitsminister Jens Spahn will den Kassen das Schummeln erschweren. So plant er, mit einer grundlegenden Reform den Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen neu zu regeln. Denn dieser hat in den vergangenen Jahren zu einem Wettstreit am Rande der Legalität geführt.

So ist es bislang Praxis, dass der Gesundheitsfonds Kopfpauschalen für Versicherte ausschüttet. Diese sind nach Alter und Geschlecht gestaffelt. Außerdem gibt es Extrazuweisungen für 80 ausgewählte Krankheiten.


Das wiederum hat die Krankenkassen dazu verleitet, Ärzte dazu zu bringen, die Krankheiten ihrer Versicherten so zu kodieren, dass es dafür zusätzliches Geld aus dem Finanzausgleich zwischen den Krankenkassen gibt. Die Folge dieses krankheitsorientierten Finanzausgleichs ist ein teurer Kodierwettbewerb.


Als erster prominenter Kassenchef überhaupt hatte der Vorstandschef der Techniker Krankenkasse (TK), Jens Baas, dieses brisante Vorgehen der Krankenkassen öffentlich gemacht. „Wir Krankenkassen schummeln ständig“, sagte er 2016 in einem Interview mit der „FAZ“.


Etliche Paragrafen wurden seither geändert, um den Kassen das Schummeln zu erschweren. Nun soll Spahns Reform die Praxis ganz beenden.

Über erste Eckpunkte unterrichtete der Minister am Montagabend die Gesundheitsexperten der Unionsfraktion. Sein Plan ist es nach Auskunft aus Teilnehmerkreisen, den Ausgleich von 80 auf alle Krankheiten auszudehnen. Das wünscht sich die AOK seit Langem. Auch der wissenschaftliche Beirat beim Bundesversicherungsamt hat sich in einem Gutachten dafür ausgesprochen.


TK-Chef Baas aber warnte am Dienstag vor einem solchen Vollmodell. Er machte sich damit zum Wortführer einer Allianz aus Ersatzkrankenkassen – mit Ausnahme von DAK und Barmer –, Betriebskrankenkassen und Innungskrankenkassen. In dieser Allianz sind mehr als die Hälfte aller gesetzlich Versicherten Mitglied.


„Das ist, als würde man auf ein Krebsgeschwür ein Pflaster kleben und anschließend erklären, der Patient sei geheilt“, kritisierte Baas das Vorhaben. Die Bedenken untermauerte die TK mit einer neuen Studie zu den Auswirkungen des bisherigen Finanzausgleichsystems. Danach haben bereits die 80 Krankheiten zu massiven Verwerfungen geführt.


Die Deutschen werden auf dem Papier immer kränker

Deutlichstes Indiz für diese Verwerfungen: Die Zahl der dokumentierten Diagnosen ist viel stärker gestiegen als die wissenschaftlich bestimmte Belastung der Deutschen mit Krankheiten. So stieg zwischen 2011 und 2014 nach einer internationalen Vergleichsstudie die Krankheitslast in Deutschland um nur ein Prozent.


Bei dem vom Finanzausgleich betroffenen gesetzlichen Krankenkassen werden hingegen in dieser Zeit 5,9 Prozent mehr Krankheitsdiagnosen dokumentiert. Bei den in den Arztpraxen dokumentierten Diagnosen chronischer Krankheiten liegt das Plus sogar bei 14,2 Prozent.

Studienautor Reinhard Busse von der Technischen Universität Berlin nennt Beispiele. „Bei der Fettleibigkeit stieg die Zahl der Diagnosen innerhalb eines Jahres um 51 Prozent, nachdem sie 2013 in die Auswahl der 80 Krankheiten aufgenommen worden war.“ Adipositas wurde wohl auch deshalb inzwischen aus der Krankheitsliste entfernt.


Bei chronischen Schmerzen gab es aus dem gleichen Grund innerhalb weniger Monate 43 Prozent mehr Diagnosen. Die Zahl der Entwicklungsstörungen stieg sprunghaft um 22 Prozent. Bei Depressionen gab es einen Anstieg um 13 Prozent. Krankhaftes Schnarchen wurde quasi über Nacht zwölf Prozent häufiger diagnostiziert.


Dass dabei die Ärzte Entscheidungsspielräume nutzen, indem sie zum Beispiel eine Befindlichkeitsstörung als Depression diagnostizieren oder einem Kopfschmerzpatienten die Diagnose chronischer Schmerz gaben, dafür spricht ein weiterer Befund: Vor allem bei leichteren, meist chronischen Krankheiten, wo solche Entscheidungsspielräume bei der offiziellen Diagnose bestünden, seien die durchschnittlichen Leistungsausgaben für die Therapie gesunken.

Der Grund: Weil immer mehr „leichte Fälle“ in die Krankheitsliste aufgenommen werden, ohne dass nennenswerter zusätzlicher Behandlungsbedarf entsteht, sinken die Durchschnittsausgaben für diese Gruppe.

Ein plastisches Beispiel: Es gibt auf einmal auf dem Papier mehr Schmerzpatienten. Die sind aber gar nicht mehr so behandlungsbedürftig, weil viele ja nur ab und zu Kopfschmerzen haben.

In der Folge schrumpfen auch die Zuweisungen aus dem Ausgleich für diese Krankheitsgruppe. Es wird für die Kassen damit noch wichtiger, die Ärzte zum „richtigen Diagnostizieren“ zu ermuntern – ein Teufelskreis.


Dagegen gab es bei den wirklich schweren, kostenintensiven Krankheiten keine Ausreißer im Vergleich zu der Verbreitung dieser Krankheiten in anderen Ländern. Insgesamt sei der „Durchschnittszuschlag“ pro Krankheitsgruppe durch diese Entwicklung um acht Prozent gesunken.


Nach Ansicht von TK-Chef Baas zeigt dies, dass der bisherige Ausgleich vor allem deshalb eine zu Manipulationen einladende Fehlkonstruktion ist. Schwer abgrenzbare Krankheiten mit eher geringen Behandlungskosten würden einfach deshalb einbezogen, weil sie besonders oft vorkommen.


Eigentlich sei diese Form der Krankheitsauswahl gesetzeswidrig, sagt Busse. Denn nach dem Gesetz dürften nur Krankheiten ausgeglichen werden, die mindestens 50 Prozent mehr Leistungsausgaben verursachen, als die durchschnittlichen Leistungsausgaben je Versicherten betragen.


Tatsächlich entfielen aber von den 2015 gezahlten 75,7 Millionen Zuschlägen 76 Prozent auf Krankheitsgruppen, die unter diesem Schwellenwert lagen. Für sie erhielten die Kassen 33,6 Milliarden Euro. Nur 24 Prozent der Zuschläge seien gesetzeskonform ausgezahlt worden. Hier lagen die Zuweisungen bei 57 Milliarden Euro.


Das Vollmodell führt in die Sackgasse

Für Studienautor Busse kann es aus den Studienergebnissen nur eine Konsequenz geben: „Eine Reform muss endlich dafür sorgen, dass nur noch teure Krankheiten, die leicht gegen andere Erkrankungen abgegrenzt werden können, ausgeglichen werden.“ Eine genau solche Krankheitsauswahl hatte vor elf Jahren auch der seinerzeitige Wissenschaftliche Beirat der Politik vorgeschlagen.


Doch die damalige SPD-geführte Bundesregierung entschied sich auf Druck der AOK dafür, auch häufige, preiswertere und schwer abgrenzbare Krankheiten in die Liste aufzunehmen. Aus Protest trat damals der Beirat geschlossen zurück. Busse war einer von ihnen. „Es freut mich nicht, dass wir mit unserer damaligen Kritik Recht behalten haben“, sagt er heute.


Umso mehr plädiert Busse aber dafür, nun den alten Fehlern keine neuen hinzuzufügen, in dem künftig gleich alle Krankheiten in den Ausgleich einbezogen werden. „Dann hätten die Kassen auf einmal für alle Krankheiten einen Anreiz, auf die Kodierung der Diagnosen Einfluss zu nehmen.“


„Der Vollausgleich führt in die Sackgasse,“ warnt auch TK-Chef Baas Gesundheitsminister Spahn. „Jetzt ist politischer Mut gefragt. Wir brauchen jetzt eine wirksame Manipulationsbremse, sonst werden wir die Kassenlandschaft bald nicht wiedererkennen.“


Die wurde schon durch den bestehenden Ausgleich durcheinandergewirbelt: Seit 2009 hat sich die Zahl der Kassen von 193 auf 109 fast halbiert. Die Ortskrankenkassen konnten ihr Vermögen um mehr als 200 Prozent erhöhen. Sie kommen in manchen Ländern wegen besonders niedriger Zusatzbeiträge inzwischen auf Marktanteile von über 50 Prozent.


Die reichste Kasse, die AOK Sachsen-Anhalt, verfügt pro Versicherten über fast 1200 Euro Vermögen, dreimal so viel wie der Durchschnitt der 30 größten Kassen. Dabei fordert sie mit 0,3 Prozent den niedrigsten Zusatzbeitrag.

Zur Reform müsse deshalb auch ein Regionalfaktor gehören, der dafür sorgt, dass regionale Kostenunterschiede besser berücksichtigt werden, sagte Baas. Ein Regionalfaktor ist dem Vernehmen nach in dem Konzept, dass Spahn am Montag der Gesundheitsarbeitsgruppe der Union vortrug, aber gar nicht vorgesehen.

Dabei dürfte eine Rolle spielen, dass ein solcher Faktor vor allem zu Lasten einiger Ortskrankenkassen in den neuen Ländern gehen würde. Dort sind die Leistungsausgaben wegen eines geringen Angebots an Ärzten und Krankenhäusern deutlich niedriger als die Zuweisungen aus dem Finanzausgleich. In Thüringen stehen aber in diesem Jahr Landtagswahlen an.


Doch endgültig entschieden hat Spahn über seine Reformeckpunkte noch nicht. Er will in dieser Woche sein Konzept auch noch mit den Gesundheitsexperten der SPD besprechen. Vor Ende Januar werde es wohl kein offizielles Eckpunktepapier geben, hieß es am Dienstag in Koalitionskreisen.




Quelle: xing-news.com, 16.1.19


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